Zum 50. Geburtstag im Gespräch mit NW-Redakteurin Simone Flörke

„Land lässt uns sinnbildlich verhungern“
Seit 50 Jahren gibt es die Samtgemeinde Boffzen. Das wird gefeiert. Ihr Bürgermeister Tino Wenkel (44) ist stolz auf die engagierten Menschen. Aber er findet auch kristische Worte für die Finanzierungsmisere.

Herr Wenkel, mit welchen Worten gratulieren Sie der Samtgemeinde Boffzen jetzt zum 50-Jährigen?
TINO WENKEL: Ich beglückwünsche die Menschen zum Zusammenhalt, zum ehrenamtlichen Engagement, zu ihrer großen Identifikation mit ihrer Heimat. Sie machen diesen strukturschwachen Landstrich so lebenswert. In den 50 Jahren ist viel passiert, ich bemerke den Generationswechsel, den frischen Wind, der guttut. Allein als Kommune könnten wir vieles nicht stemmen, erst durch das Ehrenamt, durch die Vereine in den Orten wie Boffzen Aktiv e.V., die Vereinsgemeinschaft Meinbrexen und viele andere sind hier einige Dinge überhaupt möglich.

Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Stärken der Samtgemeinde?
Die Stärken sind für mich ganz klar das Netzwerk und die gegenseitige Unterstützung. Ein Beispiel: der Mehrgenerationsspielplatz in Boffzen. Oder der elfjährige Tim, der zu mir kam und sich mit dem Anliegen Skatepark an mich wandte. Er wisse, dass wir das eigentlich nicht bezahlen könnten – er wolle es mir aber trotzdem sagen. Das war um Himmelfahrt 2020. Jetzt werden 80.000 Euro in die Hand genommen und der Skatepark gebaut. Möglich machen das das ehrenamtliche Engagement der Menschen und die kurzen Wege: Jeder macht was, jeder kennt wen. Das Zusammenspiel vieler Zahnräder. Dazu das Vertrauen und die Verlässlichkeit, auf die ich bauen kann. Das erfüllt mich mit Stolz und Freude. Eine weitere Stärke ist das Netzwerk mit den Städten Beverungen oder Höxter, beispielsweise mit Blick auf die Schullandschaft.

Und wo sind ihre Schwächen?
Die Mobilität und die Infrastruktur. Dazu die Kommunalfinanzen. Der unzureichende kommunale Finanzausgleich, weil die Steuerkraft allein für die Finanzierung unserer kleinen Flächenkommune im ländlichen Raum mit anhaltendem Bevölkerungsrückgang nicht ausreicht. Allein für die Betriebskosten von Schulen, Kitas oder Spielplätzen müssen wir uns verschulden. Das kann so nicht richtig sein und findet keine ausreichende Berücksichtigung beim Land. Es ist politisch nicht gewollt derart schwachen Regionen zu helfen. Denn das Geld dazu wäre da. Das Land lässt uns sinnbildlich am ausgestreckten Arm verhungern. Wir reden seit 2011 über Haushaltssicherung in unseren Kommunen. Hier hat keiner über seine Verhältnisse gelebt und die Bürgerinnen und Bürger werden am Ende des Tages zur Kasse gebeten.

Was treibt Sie an als Bürgermeister?
Ganz klar, die Menschen hier. Ich habe in unserer Samtgemeinde ein starkes Team zur Bewältigung unserer Herausforderungen um mich herum, auf das ich wahnsinnig stolz bin. Und es gibt ein tolles Miteinander der Menschen vor Ort, in den Vereinen, im Gewerbe, bei Firmen – das merke ich auch daran, wie viel Unterstützung wir für unser Jubiläumsfest am 14. Mai bekommen haben.

Was sind die wichtigsten Entscheidungen für Boffzen in den vergangenen Jahren?
Ganz aktuell die sachliche und konstruktive Diskussion und Entscheidungsfindung über das 3,84 Millionen-Euro-Projekt zum Sport- und Gemeindezentrum in Derental – und zwar beschlossen ohne Hallenbad. Ich kann jeden verstehen, der das Hallenbad wollte. Doch wir müssen den Weitblick auf die Kosten in den nächsten Jahren haben. 2,205 Millionen Euro kommen vom Bund – doch es gibt eine zehnjährige Zweckbindung. Ich bin dankbar, wie die Entscheidung zustande gekommen ist. Ein anständiges Miteinander. Ich erinnere mich noch daran, als das Hallenbad 2013 geschlossen wurde. Seinerzeit wurde eine sehr emotionale Diskussion geführt. Da gab es Mord und Totschlag. Außerdem gehört für mich auch die Entscheidung dazu, nach 50 Jahren den Schlüssel für die Berechnung der Samtgemeindeumlage verändert zu haben. Ein historisches Ereignis, das geräuschlos über die Bühne ging und nun für die Bürger Mitgliedsgemeinden deutlich gerechter ist: Wer mehr Geld hat, wird mehr zur Kasse gebeten. Bislang war die Umlage zum Teil nach Steuerkraft und Bevölkerungszahl 100 Prozent nach Bevölkerungsanzahl berechnet worden, nun nach Steuerkraft. Dazu kommen große Investitionen im Bereich der Feuerwehr. So haben wir den Brandschutzbedarfsplan von 2016 bis 2021 eins zu eins abgearbeitet. Dazu gehörte auch die Fusion der Ortsfeuerwehren Lauenförde und Meinbrexen. Dann die Investition in die Zukunft mit der neuen Kita für Lauenförde für rd. 4 Millionen Euro. Das macht man nicht alle Tage.

Und was werden die wichtigsten Themen in den nächsten Jahren sein?
Würgassen ist und bleibt ein großes Thema, das die Menschen beschäftigt. Das Zwischenlager für Atommüllabfälle in Würgassen ist politische Willkür, die der Region übergestülpt werden soll. Weiter beschäftigt uns der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in den Grundschulen, wo wir schon heute sagen können: Das schaffen wir bis 2025 nicht, weil die vom Bund bereitgestellten Gelder aufgrund fehlender Kofinanzierung durch das Land nicht an die Kommunen weitergereicht werden. Da hängt es. Dann der Klimawandel: Wir möchten uns CO2-neutral aufstellen, beispielsweise das Rathaus bis 2024/25 auf Basis eines neuen Konzeptes. Und das Thema Fachpersonal: Wir sind als Kommune Dienstleister – online sind wir schon ziemlich weit, unsere Dienstleistungen anbieten zu können. Aber in Schulen, Kitas, Verwaltung fehlt das Personal. Als ich 2009 anfing, gingen kurz drauf 80 Jahre kommunale Berufserfahrung in den Ruhestand. Ich möchte vorbereitet sein, deshalb bilden wir aus, bilden weiter und möchten die Menschen über ihre Identifikation an die Region binden und ihnen berufliche Perspektiven bieten.

Welche Bedeutung hat die Lage von Boffzen für die Region? Gemeinde?
Vor Ort in Boffzen prägend ist der Zusammenhalt, der allein schon deshalb wichtig ist, weil wir oftmals auf uns alleingestellt sind, um Nachteile auszugleichen. Rund um den Weserradweg haben wir eine tolle Landschaft. Wer Ruhe will, resetten möchte, eine Auszeit sucht, der ist bei uns richtig. Dazu kommen die kurzen Wege nach Beverungen und Höxter als ein gemeinsamer Wirtschaftsraum mit Einkaufen, Schulen. Das ist ein großes Pfund, das wir stärken und ausbauen möchten. Denn wir sind eine Region und haben die Pflicht, unsere Gemeinden für die Folgegenerationen das Beste draus und sie zukunftsfähig aufzustellen.

Ergänzen Sie den Satz: „Boffzen ist für mich. . .“
. . . ein ganz besonderer Teil des Weserberglands, welches für mich Heimat geworden ist. Thüringen, wo ich herkomme, ist auch sehr schön (lacht). Doch nun habe ich diese Region lieben und schätzen gelernt und fühle mich in Wehrden zu Hause.

Und was wünsche Sie Boffzen für die nächsten 50 Jahre?
Dass es die Samtgemeinde in dieser Form noch in 50 Jahren geben wird – angesichts der finanziellen Lage und der Existenzprobleme des Landkreises Holzminden nicht selbstverständlich. Es gab zwei Anläufe für die Bildung einer Einheitsgemeinde in den vergangenen zwölf Jahren. Diese sind u.a. durch ein Bürgerbegehren blockiert worden und gescheitert. So lange ich hier Bürgermeister bin, werde ich das Thema Einheitsgemeinde ohne einen klaren politischen Auftrag nicht mehr anpacken

Vorheriger Sanierung und Erweiterung der Kita schreitet voran

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